12. Dezember 2015

Ein paar Muskelzuckungen zum Traum-Body?

© Kzenon/Shutterstock.com
Elektromyostimulation, kurz EMS, ist eine Trainingsmethode, bei der die Muskulatur durch Elektroden stimuliert wird. Sie ist umstritten: Einige halten sie für effizient und zeitsparend, andere warnen vor gesundheitlichen Risiken wie Herzrasen, Nierenversagen oder Muskel-Zerstörungen. Doch wie gefährlich ist dieser Trend-Sport wirklich? Für wen eignet er sich und wer sollte besser ganz die Finger davon lassen?

Beim Elektromyostimulationstraining stehen die Trainierenden unter Strom, genauer gesagt unter „Reizstrom“. Das Prinzip ist einfach und passiert im Alltag ganz automatisch im Körper, wenn wir uns bewegen: „Normalerweise geht der elektrische Impuls vom Rückenmark aus, wird über die Nerven weitergeleitet und aktiviert dann die Muskulatur“, erklärt Martin Halle, ärztlicher Direktor der Poliklinik für Prävention und Sportmedizin in München. Das EMS-Training verstärkt diesen natürlichen Prozess, indem die Muskeln von außen durch Elektroden gereizt werden.


So funktioniert EMS

Damit die Elektroden die Muskeln stimulieren können, muss der Trainierende eine verkabelte Weste anziehen, sowie einen Gurt um die Hüfte und Manschetten an den Oberarmen und Oberschenkeln anlegen. Bevor das Training beginnt, werden die Elektroden im hautengen Funktionsanzug mit lauwarmen Wasser besprüht – so wird der Strom besser geleitet. Der Trainer kann über ein Gerät die Intensität der Stromzufuhr für die einzelnen Muskelgruppen regulieren. Wenn der Reizstrom fließt, müssen Trainierende die Muskeln anspannen und einige Sekunden dagegen halten. Da der Strom auch die Tiefen-Muskulatur erreicht, soll EMS effektiver als gewöhnliche Workout-Programme sein.


Schneller Muskelaufbau

Bereits 20 Minuten Training pro Woche sollen angeblich ausreichen, um sichtbare Erfolge zu erzielen – gerade für Berufstätige, die wenig Zeit für Sport haben, klingen solche Werbeversprechen verlockend. Eine Trainings-Einheit kostet mindestens 20 Euro. Wer EMS also zweimal die Woche nutzt, muss mit 160 Euro im Monat rechnen. Ein teurer Spaß, doch die EMS-Anbieter stützen sich auf Studien, beispielsweise von der Deutschen Sporthochschule Köln (DSHS), der Universität Nürnberg oder der Universität Bayreuth. Die Wissenschaftler bestätigen, dass die Trainingsmethode durchaus geeignet sei, um schnell Muskulatur aufzubauen, Rückenschmerzen zu lindern und Verspannungen zu lösen. Sportwissenschaftler von der DSHS stellten 2010 bei einer Studie mit Herzpatienten sogar eine Stärkung der Kraft und Ausdauer fest. Doch wirklich ausgewogen ist das Training nicht.


EMS – keine neue Methode

Die EMS-Methode ist nicht neu: Physiotherapeuten und Ärzte setzen die äußere Stromzufuhr seit den 1970er Jahren ein, um beispielsweise nach einer Knie-Verletzung gezielt wieder Muskeln aufzubauen und dabei das operierte Gelenk zu schonen. Auch Spitzensportler nutzen das EMS-Training seit Jahren als Ergänzung, um ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. Hier werden im Gegensatz zum therapeutischen Einsatz alle Muskeln im Körper stimuliert. Mittlerweile ist die Trainings-Methode im Freizeit- und Fitnessbereich angekommen und nimmt eine wachsende Rolle ein. Das zeigte sich auch auf der FIBO, der internationalen Messe für Fitness, Wellness und Gesundheit, in diesem Jahr: „Insgesamt waren rund 15 EMS-Anbieter vertreten. Im kommenden Jahr soll das Thema noch ausgeweitet werden. Dann bekommen die EMS-Anbieter sogar einen eigenen Bereich auf dem Messegelände“, sagt FIBO-Chef Ralph Scholz.


Ausdauer und Koordination fehlen

Auch Universitätsprofessor Halle hat die Trainings-Methode bereits vor Jahren ausprobiert. Dennoch sieht er sie skeptisch: „Der Hype, der beim EMS-Training besteht, ist aus meiner Sicht übertrieben, da es vom Grundkonzept, wie man körperliches Training absolvieren sollte, abweicht“, sagt der Sportmediziner. „Manche glauben, zwei mal die Woche 20 Minuten trainieren reicht und dann wird alles gut“. Klar, EMS sei ein intensives Muskeltraining. „Aber das allein genügt nicht, denn es fehlt das Herzkreislauf-Training. Dabei ist unter dem gesundheitlichen Aspekt ein Ausdauertraining das Nonplusultra – es senkt den Blutdruck, hält Gefäße geschmeidig und senkt den Blutzuckerspiegel.

Dies könne ein Muskelaufbau allein nicht leisten – egal, ob EMS oder das klassische Krafttraining, erklärt der Kardiologe und verweist auf einen weiteren Punkt: „Beim EMS werden die Elektroden nur in der Nähe des Nervs angebracht“. Der Unterschied: „Die Muskulatur wird teilweise direkt gereizt und nicht über den Nerv. Das ist zu unspezifisch und entspricht nicht der Ansteuerung durch den Nerv“, sagt der Sportmediziner. Die Trainings-Methode sei also nicht auf das Bewegungsprinzip der Muskeln – von Spieler und Gegenspieler – abgestimmt. „Im Grunde kann das EMS-Training zu einem Ungleichgewicht beim Muskelaufbau führen“, sagt Halle. Um diesen Effekt aufzufangen, sei es wichtig, beim EMS-Training die Muskeln eigenständig zu belasten und nicht einfach nur da zu liegen und den Strom arbeiten zu lassen, sagt Halle. „Hier kommt es auf eine gute Anleitung und physiologische Kenntnisse des Trainers an.“

Stromzufuhr richtig kontrollieren

Häufig wird das EMS-Training in so genannten Mikrostudios angeboten. In den meisten dieser Studios gibt es keine weiteren Geräte, da sich der Inhaber als Franchise-Unternehmer auf das EMS-Training spezialisiert hat. Das Problem: Bislang existieren keine speziellen Standards für EMS-Studios und keine einheitlichen Vorgaben, welche Qualifikationen ein Trainer vorweisen muss. „Gesetzliche Regelungen gibt es in diesem Bereich nicht“, sagt Dustin Tusch, Pressesprecher des DSSV, dem Arbeitgeberverband deutscher Fitness- und Gesundheits-Anlagen. Die Qualität der Anbieter kann also schwanken. Deshalb empfiehlt Tusch, im jeweiligen Studio nach den Qualifikationen der Trainer zu fragen.

„Empfehlenswert ist eine Trainer-B-Lizenz in Kombination mit einer zusätzlichen Ausbildung zum EMS-Trainer“. Außerdem sollte der Trainer vor der ersten Einheit ausführlich über mögliche Risiken aufklären und nach persönlichen gesundheitlichen Einschränkungen fragen. Auch Halle fordert: „Der Trainer sollte nicht nur angelernt sein, sondern eine richtige Ausbildung haben – am Besten als Physiotherapeut oder Sportwissenschaftler, damit er einen individuellen Trainingsplan erstellen und langsam ins Training einführen kann. Leute, die keine Ahnung davon haben, sollten kein Training durchführen.“

Nicht immer geht es gut aus

Spiegel online berichtete im April von einer Frau, die nach einigen EMS-Trainingseinheiten sogar ins Krankenhaus musste: Bereits nach dem ersten Probetermin hatte sie Kopfschmerzen und ein flaues Gefühl, das sie zunächst für Wetterfühligkeit hielt. Als nach dem dritten Termin Kreislaufprobleme hinzu kamen, ließ sie sich im Krankenhaus untersuchen. Die Ärzte mussten ihren Kreislauf stabilisieren und stellten die Diagnose: Zerstörung der Skelettmuskulatur – der Creatin-Kinase-Wert lag bei unglaublichen 26.000 Enzym-Einheiten pro Liter Blut (U/l).


Der Creatin-Kinase-Wert

„Manche Sportler machen sich keine weiteren Gedanken, wenn sie Muskelkater haben. Doch wenn die Muskelfasern durch Überanstrengung kaputt gehen, werden Abfallstoffe ans Blut abgegeben“, sagt Halle. Das könne auch beim klassischen Krafttraining passieren. „Das Problem beim EMS: Der Creatin-Kinase-Wert, also die Konzentration des Abbaustoffes, steigt vergleichsweise extrem an“, erklärt Halle. Sportwissenschaftler nutzen den Wert, um den Trainingsplan zu optimieren. Mediziner bekommen durch stark erhöhte Werte Hinweise auf Schäden am Herzen und der Skelettmuskulatur. Normal sind Werte von 150 U/l, bei Sportlern können sie nach dem Training auch bei 400 U/l liegen, erklärt Halle.

Eine Studie der Deutschen Sporthochschule Köln zeigt: Die CK-Werte beim EMS-Training können bis zu 18 mal höher ansteigen als bei einem konventionellen Training. „Man fühlt sich dann extrem abgeschlagen und der Anstieg ist gefährlich: Die hohe Konzentration des Eiweißes kann die Nierenfunktion beeinträchtigen“, erklärt der Mediziner. Im schlimmsten Fall könne dies zu Nierenschäden führen. „Deshalb ist es beim EMS-Training besonders wichtig, viel zu trinken, damit die Giftstoffe aus dem Körper geschwemmt werden“, erklärt der Arzt. Außerdem solle man „das Training möglichst niedrig beginnen und langsam steigern, damit es erst gar nicht zu einem derartigen Anstieg des CK-Wertes kommt“, sagt Halle vom Zentrum für Prävention und Sportmedizin.


Trainingsanreiz versus Fehleinschätzung

Das Problem bei dem Berliner Fall: Obwohl die 48-Jährige während des Trainings über Schmerzen klagte, hatte die Mitarbeiterin des Mikrostudios die Stromzufuhr nicht reduziert, sondern sie bestärkt durchzuhalten – aus Sicht von Martin Felske, dem Anwalt der Kundin, eine klare Pflichtverletzung: Die Trainerin hätte das Programm anpassen oder sogar abbrechen müssen. Vor dem Landesgericht Berlin klagte er für seine Mandantin auf Schmerzensgeldanspruch sowie Schadensersatzansprüche. Die Richter wiesen die Klage ab. Da im Laufe des Verfahrens jedoch kein medizinisches Gutachten angefordert wurde, ging Felske in Berufung. Nun müssen die Richter des Oberlandesgerichtes Berlin über den Fall entscheiden.

Rechtliches Neuland

„Juristisch gesehen befinden wir uns hier auf völligem Neuland“, sagt Felske. Bislang sei nicht geklärt, welche Aufklärungspflichten ein EMS-Studiobetreiber hat und wer haftet, wenn nach dem Training Gesundheitsbeschwerden auftreten. „Normalerweise gilt für Sportler die Eigenverantwortungs-Vermutung, das heißt, jeder muss selbst einschätzen, welches Risiko er eingeht.“ Doch Felske sieht zwischen EMS und anderen Trainingsmethoden Unterschiede: „Beim EMS-Training reguliert ein Trainer die Stromzufuhr von außen, deshalb kann man aus meiner Sicht nicht mehr von der Eigenverantwortung des Sportlers ausgehen“, erklärt er. So lange alles gut geht, sei das kein Problem, aber „wenn der Trainer, der den Schalter bedient, unzureichend geschult ist oder zu wenig Ahnung von dem Gerät hat, kann die Stromzufuhr für den Körper des Sportlers gefährlich werden“, sagt der Anwalt.


verbrauchertipp: Wenn während des Sportprogramms körperliche Beschwerden oder Probleme auftreten, weisen Sie Ihren Trainer sofort darauf hin und brechen im Zweifelsfall das Training besser ab. Wer sich nach dem Training dauerhaft schlapp fühlt oder gar Beschwerden wie Herzrasen, Übelkeit oder Kreislaufprobleme hat, sollte unbedingt einen Arzt aufsuchen.


Risikogruppen – Nicht für jeden geeignet

Um das Gesundheitsrisiko zu reduzieren, empfehlen einige EMS-Anbieter ihren Kunden, das Training abzusagen, wenn diese erkältet sind oder einen bakteriellen Infekt haben. Halle geht noch weiter: „Ich halte einen Check beim Hausarzt vor dem EMS-Training immer für sinnvoll. Gerade die Blutdruckwerte können ansteigen. Wer damit Probleme hat, sollte nicht auf diese Weise trainieren.“ Außerdem sollten folgende Personen auf ein EMS-Training verzichten: Menschen mit Herz-Kreislauf-Problemen, mit Herzschrittmachern oder elektrischen Implantaten, mit Krankheiten wie Epilepsie oder Tumor-Erkrankungen ebenso wie Diabetiker und Schwangere. Auch Nico Pavlovic von Bodystreet, einem EMS-Anbieter mit deutschlandweit rund 200 Filialen, empfiehlt jedem Mitglied, „zu Beginn des Trainings einen Sporttauglichkeitstest zu absolvieren, der unter Beobachtung eines Sportmediziners oder Internisten mit sportmedizinischer Zusatzqualifikation durchgeführt wird.“


Ein gutes Studio finden

Die Qualität des Anbieters steht und fällt mit der Ausbildung der Trainer. Fragen Sie, welche Aus- und Weiterbildungsprogramme das Personal absolviert hat. Ebenso wichtig ist es, dass der Trainer immer bei einer Einheit dabei ist. Manche Anbieter kooperieren auch mit Sportmedizinern, Physiotherapeuten und Sportwissenschaftlern, die vorab die Gesundheit der Kunden überprüfen.


Verantwortung für den Körper

Letztlich bleibt dem Sportler doch ein Teil an Eigenverantwortung: Er entscheidet, wie oft und zu welchem Trainer er geht. Und während beim Fußball oder Reiten die Verletzungsgefahren offensichtlich sind, klingt das EMS-Training zu einfach und verlockend, um über mögliche Risiken nachzudenken. Wie so oft ist alles eine Frage der richtigen Dosierung, denn zu starke Stromimpulse können dem Körper schaden und zu unerwünschten Nebenwirkungen führen. Wer das EMS-Training dennoch ausprobieren will, sollte ein Studio mit qualifizierten Mitarbeitern besuchen. Es ist eine Sache des Vertrauens, ob man seine Gesundheit in die Hände eines Trainers legen will. Für ein gesundes, ausgewogenes Training sollte man aber auch dann das Ausdauer- und Koordinations-Training nicht vergessen. „Es geht eben nicht so einfach: rein, Strom an und trainiert wieder raus“, sagt Halle.


Auf den Körper hören

„Gesunde Menschen können das EMS-Training ohne Bedenken aus medizinischer Sicht absolvieren. Je untrainierter sie sind, umso gefährlicher kann dies allerdings für ihre Nieren sein. Deshalb ist es wichtig, beim EMS-Training genügend zu trinken“, rät Professor Halle. Wie auch für andere Sportarten gilt: Gönnen Sie sich genügend Erholungsphasen zwischen den Einheiten – absolvieren Sie das Training höchstens ein bis zwei Mal pro Woche. „Natürlich ist es gut, wenn Menschen überhaupt Sport machen. Aber für ein gesundes Training macht EMS nur als Ergänzung Sinn“, sagt Halle und rät: Vorher mindestens 20 Minuten Ausdauertraining und dann ein Muskel-Ketten-Training, das die Muskeln in der Bewegung aufbaut. Das kann einer Dysbalance der Muskulatur vorbeugen.

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