10. Juli 2016

Vorteile einer starken gesetzlichen Rente

Dass die gesetzliche Rente im Alter nicht zum Leben reicht, hört und liest man seit Jahren. Doch für wen und in welchem Ausmaß diese Aussage tatsächlich gilt, ist von vielen Faktoren abhängig, die niemand vorhersehen kann. Der Politikwissenschaftler und Autor Christoph Butterwegge erklärt, warum die aktuelle Lage politisch erzeugt ist, wie diese politisch auch wieder aufgelöst werden könnte und warum der demografische Wandel keinesfalls zwangsläufig zu niedrigeren Renten führen muss.

verbraucherblick: Das aktuelle deutsche Rentensystem wird von vielen Seiten heftig kritisiert. Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptprobleme?

Prof. Dr. Christoph Butterwegge: Das erste Problem ist die Teilprivatisierung der Rente. Das Niveau der gesetzlichen Rente wurde abgesenkt und die Menschen sollen zusätzlich privat vorsorgen, damit sie im Alter ihren Lebensstandard halten können. Dieses Konzept ist aber hauptsächlich für Menschen mit einem hohen Einkommen attraktiv. Sie haben genug Geld, um etwas anzusparen, bekommen hohe Steuervorteile und erhalten staatliche Prämien, wenn sie zum Beispiel riestern. Für Normal- und Geringverdiener fallen die Vorteile deutlich geringer aus. Die Statistiken zeigen, dass viele kaum privat vorsorgen, weil sie das System nicht verstehen oder schlichtweg nicht die finanziellen Möglichkeiten haben. Eine alleinerziehende Mutter, die sich fragt, wie sie nach dem 20sten des Monats noch etwas Warmes zu essen auf den Tisch bringen soll, hat nichts davon, dass es staatliche Riesterprämien gibt. Diejenigen, die es also am nötigsten hätten, werden von den staatlich geförderten Programmen für die private Rente nicht erreicht.

verbraucherblick: Müsste man also nur die Produkte und die Sparmöglichkeiten für Geringverdiener verbessern, um die Probleme zu lösen?

Prof. Dr. Christoph Butterwegge: So einfach ist es leider nicht. Denn das Rentensystem hat noch weitere Hürden. Wenn jemand heute in Rente geht, dann geht man im Normalfall davon aus, dass die Person mindestens 45 Jahre lang gearbeitet und in die gesetzliche Rentenkasse eingezahlt hat. Außerdem muss sie ein bestimmtes Durchschnittsgehalt für diese Zeit vorweisen, damit sie die Durchschnittsrente bekommt. Dieses Konzept funktioniert für viele Rentner in zehn oder zwanzig Jahren aber nicht mehr, wenn der Arbeitsmarkt sich weiterhin so entwickelt wie im Moment. Die Deregulierung hat nämlich dafür gesorgt, dass es viel mehr Mini- und Midijobs gibt als früher. Auch die Zahl der Soloselbstständigen, die nicht in die Rentenkasse einzahlen, ist gestiegen. Und wenn jemand Hartz IV empfängt, sammelt er so gut wie gar keine Rentenpunkte im Gegensatz zu früheren Zeiten der Arbeitslosigkeit. Das alles sorgt dafür, dass viele Menschen heute weniger verdienen, weniger Jahre in die Rentenkasse einzahlen und damit auch weniger Anwartschaften haben. Wenn nun zusätzlich das Rentenniveau abgesenkt wird, dann ist die Altersarmut für diese Gruppe vorprogrammiert.

verbraucherblick: Viele Politiker sagen, dass das nur wenige Menschen betrifft und dass diese ja die Grundsicherung im Alter bekommen könnten. Momentan sind das nur 536.000 von 17,5 Millionen Altersrentnern. Ist die Warnung vor Altersarmut also übertrieben?

Prof. Dr. Christoph Butterwegge: Nein. Zum Ersten finde ich die Aussage von Politikern sehr undifferenziert, dass Altersarmut nur dann vorherrscht, wenn jemand Grundsicherung im Alter bezieht. Zum Zweiten ist die Grundsicherung eigentlich nur als Übergangslösung konzipiert worden, weshalb die Höhe kaum zum Überleben reicht. Und zum Dritten weiß ich aus eigenen und fremden Untersuchungen, dass die Dunkelziffer bei der Grundsicherung im Alter sehr hoch ist. Viele Personen beantragen die Hilfe nicht, obwohl sie Anspruch darauf hätten. Manche schämen sich, auf staatliche Unterstützung angewiesen zu sein, weil sie nicht als faul gelten wollen. Manche wollen die Grundsicherung nicht beantragen, um zu vermeiden, dass ihre Kinder ihre Finanzen offenlegen müssen. Und manche wissen schlichtweg nicht, dass es so etwas wie Grundsicherung im Alter überhaupt gibt. Einige dieser Personen gehen dann lieber Flaschen sammeln oder essen regelmäßig bei der Tafel, weil das anonym ist. Manche vereinsamen immer weiter, weil sie die Aktivitäten mit ihren Freunden nicht mehr bezahlen können, aber nicht darüber sprechen wollen. Manche übernehmen auch einen Mini-Job, solange es noch irgendwie geht. Einige der mehr als 900.000 Minijobber über 64 Jahre gehen vermutlich auch deshalb arbeiten, weil sie noch motiviert sind oder sich gerne engagieren. Aber niemand kann mir erzählen, dass Rentner in aller Herrgottsfrühe Zeitungen austragen oder Klos putzen, weil ihnen das so viel Spaß macht. Das passiert aus der Not heraus und die Anzahl derer, die solche Jobs übernehmen, ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen.

verbraucherblick: Ist die Altersarmut für Geringverdiener, Soloselbstständige und Personen, die länger arbeitslos waren, also unausweichlich?

Prof. Dr. Christoph Butterwegge: Wenn alles so weitergeht wie in den vergangenen zehn Jahren, dann ja. Aber es muss ja nicht so weitergehen. Viele Probleme sind politisch erzeugt. Also können sie auch politisch gelöst werden.

verbraucherblick: Was müsste dafür passieren?

Prof. Dr. Christoph Butterwegge: Zum einen müssen die Löhne steigen. In Deutschland sind die Löhne in den vergangenen 15 Jahren in fast jeder Branche stagniert oder gesunken, was dem Land als Exportnation einen wirtschaftlichen Vorteil bringt, aber für die individuellen Gehälter und Renten schlecht ist. Wenn sie ans Wachstum angepasst werden, steigen sowohl die Einzahlungen jedes Einzelnen als auch das Rentenniveau insgesamt. Zum Zweiten müssen die prekären Beschäftigungen zurückgefahren werden. Natürlich kann ein Minijob für einzelne Personen eine gute Variante sein. Aber sie darf nicht zum Mittel werden, um Sozialabgaben zu sparen. Zum Dritten muss die Beitragsbemessungsgrenze angehoben oder komplett abgeschafft werden. Warum sollte jemand, der 500.000 Euro im Jahr verdient, nicht den gleichen Prozentsatz in die Rentenkasse einzahlen wie alle anderen auch? Man kann ja gleichzeitig das Äquivalenzprinzip abmildern. Dann bekämen die Leute mit einem überdurchschnittlich hohen Gehalt ab einer bestimmten Höhe trotzdem nur zwei Rentenpunkte, aber sie würden den vollen prozentualen Rentensteueranteil leisten. Damit gäbe es einiges mehr an Einzahlungen, die verteilt werden können.

verbraucherblick: Damit wäre die gesetzliche Rente etwas besser aufgestellt. Würde das denn reichen?

Prof. Dr. Christoph Butterwegge: Langfristig ist es meiner Meinung nach notwendig, die gesetzliche Rente wieder zu dem machen, was sie einmal war: Ein Lohn für die erbrachte Lebensleistung, von dem man bis zum Lebensende leben kann. Um das zu erreichen, wäre eine solidarische Rentenversicherung für alle am besten geeignet. Und mit ‚alle‘ meine ich wirklich alle, also auch Beamte, Richter, Soldaten, Ärzte, Minister und Freiberufler. Eben alle, die in unserem Land arbeiten und dafür Geld bekommen. Wenn alle diese Personen in eine staatliche Rentenversicherung einzahlen würden, dann könnten davon auch wieder Renten bezahlt werden, von denen man leben kann. Diskutieren müsste man noch darüber, wer als Rentner gilt. Also ob beispielsweise Personen, die hohe Einnahmen durch Zinsen erzielen, diese Staatsrente auch ab einem bestimmten Alter bekommen würden. Oder ob man festlegt, dass nur diejenigen eine Staatsrente bekommen, die keinerlei regelmäßigen Einnahmen mehr haben. Aber das wären dann Details. Entscheidend ist, dass erst einmal alle in die gleiche Rentenkasse einzahlen.

verbraucherblick: Ist das Umstellen unseres derzeitigen Systems hin zu einer solchen Staatsrente nicht völlig utopisch?

Prof. Dr. Christoph Butterwegge: Organisatorisch wäre das durchaus zu machen. Denn die gesetzliche Rente ist überraschend unbürokratisch und günstig. Es muss ja nur ziemlich wenig verwaltet werden, da es ein reines Umverteilungssystem ist. Eine bestimmte Anzahl an Menschen zahlt automatisch ein. Und eine andere Anzahl an Menschen bekommt automatisch Geld heraus. Das System ist unabhängig vom Finanzmarkt und von der Inflation. Das Problem ist, dass einige reiche und mächtige Leute vom aktuellen System profitieren. Und diese Lobby ist stark und wird sich gegen eine Staatsrente wehren. Allerdings kann ich das nur bedingt nachvollziehen. Denn die Umstellung würde ja nicht bedeuten, dass alle am Ende nach dem kommunistischen Prinzip die gleiche Rente erhalten. Selbstverständlich würden Personen, die in ihrem Erwerbsleben mehr verdient haben, auch eine höhere Rente bekommen. Aber Beamte, Politiker, Ärzte und so weiter würden nicht mehr separat vom Rest der Gesellschaft behandelt, sondern alle würden in einen Topf einzahlen und ausbezahlt werden.

verbraucherblick: Trotzdem bleibt das Problem des demografischen Wandels. Die gesetzliche Rente wurde ja auch deshalb beschnitten, weil es in Zukunft immer mehr Rentner und immer weniger Erwerbstätige geben wird, die für die Rentner einzahlen.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge: Das mit den Zahlen stimmt. Die Schlussfolgerung nicht. Denn dieses demografische Problem haben wir ungefähr seit dem Jahr 1890. Seitdem ist die arbeitende Bevölkerung stetig geschrumpft, während die Anzahl der Rentner und die Lebenserwartung gestiegen ist. Entscheidend dafür, dass das System dadurch nicht zusammenbricht, ist die Produktivität. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Im Jahr 1900 hat ein Bauer in Deutschland etwa vier Personen ernährt. Heute ernährt ein Bauer in Deuschland etwa 130 Personen. Trotzdem würde niemand sagen, dass wir alle verhungern müssen oder dass der Bauer das auf keinen Fall schaffen kann. Entscheidend ist die Produktivität. Wenn sich die Maschinen und Produktionsmöglichkeiten verbessern, dann kann der Bauer das locker schaffen. Ähnlich ist es auch mit dem Rentensystem. Wenn der Kuchen insgesamt größer wird, weil die Produktivität steigt, haben wir überhaupt kein Problem.

verbraucherblick: Warum steigt dann aber die Altersarmut?

Prof. Dr. Christoph Butterwegge: Es steigt nicht nur die Altersarmut. Auch die Kinderarmut ist in Deutschland so hoch wie noch nie. Fast jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut. Wir haben kein Problem zwischen Jung und Alt. Wir haben eine Schere zwischen Arm und Reich, die immer größer wird. Und dieser Schnitt geht durch alle Generationen.

verbraucherblick: Was also soll ein 30-jähriger Soloselbstständiger, eine 40-jährige Alleinerziehende, ein 50-jähriger Angestellter oder ein 60-jähriger Teilzeitjobber jetzt tun?

Prof. Dr. Christoph Butterwegge: Ich als Politikwissenschaftler kann nur schwer Einzelratschläge geben. Grundsätzlich kann ich sagen, dass Sie einen guten Riester-Vertrag nicht kündigen sollten. Denn diese Verträge sind nur dann sinnvoll, wenn man sie durchhält. Auch weil man hohe Prämien mit dem Mindestbeitrag von 60 Euro pro Jahr erhält, kann sich das durchaus lohnen. Aber grundsätzlich sehe ich vor allem politischen Handlungsbedarf. Die meisten der Geringverdiener haben aber nicht die Möglichkeit, regelmäßig nach Berlin zu fahren, um den Politikern das klarzumachen. Am besten wäre es daher, wenn die Politiker anhand der aktuellen Entwicklungen selbst einsehen würden, dass kapitalgedeckte Rentenversicherungen nicht so gut funktionieren wie eine starke gesetzliche Rente. Als Reaktion darauf sollten sie beschließen, die bestehenden Privatverträge ruhigzustellen und die staatliche Rente wieder zu stärken, am besten in Form einer Bürgerversicherung für alle. Außerdem sollten die Arbeitsmarktbedingungen so angepasst werden, dass sozialversicherungspflichtige Jobs mit einer anständigen Entlohnung die Regel sind. Zeiten der Teilzeitbeschäftigung und der Arbeitslosigkeit sollten mit staatlichen Zuschüssen zumindest teilweise ausgeglichen werden, sodass die spätere Rentenhöhe durch solche Zwischenphasen nicht so drastisch absinkt, wie das momentan der Fall ist. Zu guter Letzt sollte alles dafür getan werden, dass die soziale Ungerechtigkeit wieder abnimmt. Denn diese Entwicklung schadet nicht nur den einzelnen Betroffenen, sondern der gesamten Gesellschaft.


Prof. Dr. Christoph Butterwegge ist Professor für Politikwissenschaften an der Universität zu Köln. In seinen Büchern – zuletzt erschienen „Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung“ – kritisiert er die zunehmende soziale Spaltung in Deutschland.

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