10. Juni 2016

So kombinieren Sie Beruf und Pflege!

© Syda Productions/Fotolia.com
Einen Angehörigen pflegen und trotzdem weiter arbeiten: Das Pflegezeitgesetz soll helfen, beides unter einen Hut zu bekommen. Es sieht unter anderem ein Recht auf Freistellung vor und zinslose Darlehen zur Überbrückung von Dienstausfällen. Doch bislang werden diese Möglichkeiten kaum genutzt – auch, weil viele die neuen Regelungen gar nicht kennen.

Der Vater von Viktor Jundt ist 84 Jahre alt und kann sich nicht mehr selbst versorgen. Er leidet unter Demenz und epileptischen Anfällen. Seit einem schweren Sturz hat sich sein Zustand erheblich verschlechtert; er braucht Pflege rund um die Uhr. Um sich um ihn kümmern zu können, ist Viktor Jundt zu ihm gezogen, die eigene Wohnung hat er aufgegeben. Seinen Job als Haustechniker an einer Hochschule will er von 40 auf 20 Stunden reduzieren; vorerst für ein Jahr. Sein Arbeitgeber hat ihm aber eine Option auf Verlängerung gewährt: Je nachdem, wie sich der Zustand seines Vaters verändert, kann er ein weiteres Jahr dranhängen. Für die Zeit, in der Viktor Jundt die Familienpflegezeit nutzt, hat die Hochschule eine Vertretung eingestellt.

Auch wenn Viktor Jundt oft an seine Grenzen stößt, die Pflege seines Vaters ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. „Wir haben meine Mutter zusammen bis zu ihrem Tod gepflegt, und es war unsere Abmachung, dass ich mich um ihn kümmere, wenn es soweit ist“, sagt der 59-Jährige. Die vorübergehende Reduzierung der Arbeitszeit hilft ihm, Pflege und Beruf miteinander zu vereinbaren. So kann er sich vormittags um seinen Vater kümmern, am Nachmittag übernimmt seine Schwester. „Das war für uns die beste Lösung“, so Viktor Jundt.

Neue Regelungen seit 2015

Wie Viktor Jundt geht es vielen. Rund 2,6 Millionen Menschen in Deutschland sind derzeit pflegebedürftig, mehr als zwei Drittel von ihnen werden zu Hause gepflegt. In den meisten Fällen übernehmen Familienangehörige die Pflege. Damit sich das besser mit dem Beruf vereinbaren lässt, wurden zum 1. Januar 2015 neue gesetzliche Regelungen eingeführt. Sie sollen Beschäftigten bessere Möglichkeiten bieten, sich um die häusliche Pflege von Angehörigen zu kümmern. Das Pflegezeitgesetz regelt verschiedene Pflegezeit-Modelle.

Kurzpflegezeit – für Notfälle

Bei akut auftretender Pflegebedürftigkeit eines nahen Angehörigen können sich Arbeitnehmer bis zu zehn Tage von der Arbeit freistellen lassen. Darauf haben alle Beschäftigten einen Anspruch. Den Lohn muss der Arbeitgeber während dieser Zeit nur dann weiterzahlen, wenn das entsprechend vereinbart wurde, zum Beispiel in einem Tarifvertrag oder einer Betriebsvereinbarung. In allen anderen Fällen wird eine Lohnersatzleistung gezahlt, das Pflegeunterstützungsgeld. Es muss bei der Pflegekasse oder der privaten Krankenversicherung des Pflegebedürftigen beantragt werden und beträgt in der Regel etwa 90 Prozent des Nettogehalts, abzüglich der Beiträge für die Sozialversicherung. Die Höhe wird nach den Vorschriften für das Kinderkrankengeld berechnet.

Die Kurzpflegezeit ist für außergewöhnliche, plötzlich eintretende Veränderungen gedacht, zum Beispiel einem Schlaganfall oder bei einer vorzeitigen Entlassung aus dem Krankenhaus. Sie soll berufstätigen Angehörigen die Möglichkeit geben, die Pflege für die Zukunft zu organisieren. Dazu gehört auch, sich über verschiedene Pflegeangebote zu informieren, Behördengänge zu erledigen und die nötigen Schritte für eine häusliche Pflege einzuleiten. Der Anspruch auf Kurzzeitpflege besteht einmalig für jede pflegebedürftige Person und ist auf insgesamt zehn Tage begrenzt. Sie können auf mehrere Angehörige aufgeteilt werden. Die Auszeit muss dem Arbeitgeber sofort mitgeteilt werden. Er kann ein ärztliches Attest über die voraussichtliche Pflegebedürftigkeit des Angehörigen verlangen.


Was ist ein naher Angehöriger?

Laut Pflegezeitgesetz gelten als nahe Angehörige

– Großeltern, Eltern, Schwiegereltern, Stiefeltern,

– Ehegatten, Lebenspartner, Partner einer eheähnlichen oder lebenspartnerschaftsähnlichen Gemeinschaft, Geschwister, Ehegatten der         Geschwister und Geschwister der Ehegatten, Lebenspartner der Geschwister und Geschwister der Lebenspartner,

– Kinder, Adoptiv- oder Pflegekinder, die Kinder, Adoptiv- oder Pflegekinder des Ehegatten oder Lebenspartners, Schwiegerkinder und Enkelkinder.


Pflegezeit – teilweise berufsfrei

Wenn ein naher Angehöriger bereits pflegebedürftig ist, können sich Beschäftigte bis zu sechs Monate ganz oder teilweise von der Arbeit freistellen lassen, um sich um ihn zu kümmern. Voraussetzung dafür ist, dass der Angehörige mindestens Pflegestufe 1 hat. Wenn noch keine Pflegestufe festgestellt wurde, muss der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) eine Begutachtung durchführen. Pflegezeit kann auch zur Sterbebegleitung genommen werden, wenn absehbar ist, dass die pflegebedürftige Person nicht mehr lange leben wird. Dann ist sie jedoch auf drei Monate begrenzt.

Einen Anspruch auf Pflegezeit gibt es nur in Unternehmen mit mehr als 15 Beschäftigten. Der Arbeitnehmer muss seinen Arbeitgeber mindestens zehn Tage vor der Pflegezeit schriftlich über den Zeitpunkt und Umfang der geplanten Auszeit informieren und eine Bescheinigung über die Pflegebedürftigkeit des Angehörigen vorlegen. Von der Ankündigung bis zum Ende der Pflegezeit darf er nicht beziehungsweise nur in besonderen Ausnahmefällen gekündigt werden.


Zinsloses Darlehen

Zur besseren finanziellen Absicherung des Lebensunterhalts haben nahe Angehörige während der Pflegezeit Anspruch auf ein zinsloses Darlehen. Es soll helfen, den Lohnausfall, der durch die Auszeit entsteht, zumindest teilweise auszugleichen. Das Darlehn beträgt maximal 50 Prozent des monatlichen Nettogehalts, wird in Raten ausgezahlt und muss innerhalb von vier Jahren nach Beginn der Freistellung zurückgezahlt werden. In besonderen Fällen, zum Beispiel bei Arbeitslosigkeit, kann die Rückzahlung gestundet oder teilweise erlassen werden. Das Darlehn wird beim Bundesamt für Familie und zivilrechtliche Aufgaben (Bafza) beantragt.


Familienpflegezeit – parallel zur Arbeit

Mit den neuen Regelungen ist auch eine längere Auszeit möglich: die Familienpflegezeit. Pflegende Angehörige können sich bis zu 24 Monate teilweise von der Arbeit freistellen lassen. Voraussetzung dafür ist, dass sie mindestens 15 Stunden in der Woche weiterarbeiten. Eine volle Freistellung wie in der Pflegezeit ist nicht möglich. Aber auch dabei gilt: Bei dem zu pflegenden Angehörigen muss mindestens Pflegestufe 1 festgestellt worden sein. Auf Antrag wird ein zinsloses Darlehen zum Ausgleich des Verdienstausfalls gewährt.

Kleiner Wehrmutstropfen für Angestellte kleiner Firmen: Einen Anspruch auf Familienpflegezeit gibt es nur in Unternehmen mit mehr als 25 Mitarbeitern. Der Arbeitgeber muss spätestens acht Wochen vorher schriftlich über die geplante Reduzierung der Arbeitszeit informiert werden. Wie bei der Pflegezeit besteht auch in der Familienpflegezeit Kündigungsschutz.

verbrauchertipp: Vereinbaren Sie die Verteilung oder Verringerung der Arbeitszeiten mit Ihrem Arbeitgeber schriftlich. Das gibt allen Beteiligten eine Verbindlichkeit und erspart bei Unklarheiten später Streit.


Kombination von Pflegezeit und Familienpflegezeit möglich

Pflegezeit und Familienpflegezeit können auch miteinander kombiniert werden. Die gesamte Pflegedauer ist jedoch auf zwei Jahre begrenzt. Und: Der Übergang von beiden Varianten muss nahtlos sein. Pflegende Angehörige können zum Beispiel nach sechs Monaten Pflegezeit zusätzlich noch 18 Monate Familienzeit dranhängen. Oder nach einigen Monaten Teilzeit in der Familienpflegezeit ein paar Monate ganz zu Hause bleiben und die Pflegezeit nutzen. Der Arbeitgeber muss drei Monate vorher informiert werden.


Mehr Aufklärung und Mut

Vollzeit und Pflege miteinander vereinbaren ­­­- für Angehörige ist das ein Balanceakt, der nur sehr selten gelingt. Um bessere Voraussetzungen zu schaffen, wurde im Jahr 2015 das Pflegezeitgesetz eingeführt. Doch bislang sind die neuen Regelungen nur wenigen Menschen bekannt. Das hat eine repräsentative Studie des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) ergeben. Danach fühlen sich 84 Prozent der Befragten „schlecht“ oder „sehr schlecht“ über ihre Rechte und die verschiedenen Entlastungsmöglichkeiten informiert. Auch einem Großteil der Menschen mit eigener Pflegeerfahrung sind die Bestimmungen nicht bekannt. Würden mehr Menschen die Optionen und Abläufe sowie Institutionen Ansprechpartner kennen, würden sie auch mehr in Anspruch genommen, so die Autoren der aktuellen Studie. Sie fordern eine „pflegesensible Unternehmenskultur“.


Fünf Tipps für pflegende Angehörige

Frank Schumann von der Fachstelle für pflegende Angehörige rät arbeitenden Familienmitgliedern folgendes:

– Treffen Sie endgültige Entscheidungen nie in einer emotionalen und belastenden Situation am Krankenbett. Nutzen Sie die Kurzpflegezeit, um in Ruhe eine Lösung zu finden.

– Informieren Sie sich über Ihre Rechte und überlegen Sie realistisch, in welchem Umfang Sie parallel zur Pflege arbeiten können und welche Arbeitszeitmodelle dafür in Frage kommen. Kalkulieren Sie dabei ein, dass der Pflegeaufwand mit den Jahren eher größer als kleiner werden wird.

– Sprechen Sie mit Ihrem Arbeitgeber über die verschiedenen Optionen, zum Beispiel über Teilzeitarbeit. Bereiten Sie sich gründlich auf dieses Gespräch vor. Machen Sie konkrete Vorschläge und treten Sie selbstbewusst auf.

– Lassen Sie sich bei Bedarf im Vorfeld von Fachleuten beraten, zum Beispiel bei einem Pflegestützpunkt. Dort kann man Ihnen helfen, eine individuelle Lösung für Ihre Situation zu finden. Die Beratungen sind kostenlos.

– Auch wenn es nicht immer leicht miteinander zu vereinbaren ist: Versuchen Sie, parallel zur Pflege weiter zu arbeiten. Sonst dreht sich Ihr Leben irgendwann nur noch im die Pflege. Sie verlieren sich selbst aus den Augen, die Gefahr der sozialen Isolation steigt. Der Beruf kann dabei Unterstützung und Hilfestellung sein.


Diese Auffassung vertritt auch Frank Schumann, Leiter der Fachstelle für pflegende Angehörige in Berlin: „In vielen Unternehmen ist Familienfreundlichkeit heute Pflicht. Bis es mit der Pflege so weit ist, wird es noch einige Zeit dauern. Im Moment reagieren viele Chefs eher verschreckt. Sie wissen nicht, wie sie mit dem Thema umgehen sollen und haben Angst, Präzedenzfälle zu schaffen, nach dem Motto: Da könnte ja jeder kommen. Dabei wäre der umgekehrte Weg der richtige. Zu sagen: Das ist toll, was Sie leisten, wir unterstützen Sie und probieren das mit Ihnen aus.“ Hauptproblem sei aber, dass viele Arbeitnehmer gar nicht erst fragen, weil sie die Regelungen nicht kennen, weil sie berufliche Nachteile fürchten oder einfach unterschätzen, was auf sie zukommt. Schumann rät pflegenden Angehörigen, Entscheidungen nicht zu überstürzen und die Rechte, die ihnen zustehen, auch zu nutzen.

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